„Seitdem ich selber schreibe habe ich keine Zeit mehr zu lesen.“
Kommt dir das bekannt vor? Diesen Satz bekomme ich häufig zu hören, wenn ich Schriftsteller frage, welches Buch sie zuletzt gelesen haben. Mein Herz stolpert dann mal kurz und ein Auge fängt an zu zucken. 😀
Wenn du keine Zeit zum Lesen hast, hast du auch nicht die Zeit — oder die Werkzeuge — um zu schreiben. So einfach ist das.“ (Stephen King)
Nicht nur, dass ihnen supertolle, faszinierende Geschichten entgehen.
Wir haben uns doch fürs Schreiben entschieden, gerade weil wir gerne lesen. Leider gibt es keine Universität, an der wir belletristisches Schreiben studieren können. Uns bleiben Fern- oder Onlinekurse, die ein guter Anfang sind, aber auch nur die Basics vermitteln.
Lesen ist wie Training für Schriftsteller. Genau wie Leistungssportler müssen auch Schriftsteller ihre Fähigkeiten immer wieder trainieren. Das geschieht durch schreiben und lesen. Schreiben und lesen. Immer und immer wieder.
Hörst du auf zu lesen, behinderst du deine Weiterentwicklung.
Und zwar auf mehreren Ebenen.
Wortschatz
Es ist eine ganz einfache Rechnung. Je mehr du liest, umso größer, bunter und interessanter wird dein Vokabular.
Fachwörter, Fremdwörter, veraltete Wörter. All diese lernst du aus Büchern und kannst sie dann (sofern es zu deiner Geschichte passt) in deinen Roman einbauen.
Dann lesen Andere wieder die Wörter, lernen dazu, geben sie weiter und verhindern so, dass sie irgendwann in Vergessenheit geraten.
Sprachgefühl
Schriftsteller sind Komponisten. Buchstaben und Wörter ihre Noten.
Liest man ein gut geschriebenes Buch, ist es fast, als ob man einer Oper lauscht.
Sprache hat einen eigenen Rhythmus. Veränderst du den Rhythmus, veränderst du die Wirkung. Das zu verstehen braucht einfach Übung.
Meisterwerke der Literatur zu lesen hilft dir dabei, dieses Gefühl für Sprache und ihren Rhythmus zu entwickeln.
Verstand
Dein Verstand ist deine schärfste Waffe.
Wenn du nicht liest, wird diese stumpf und rostet in einer Ecke mit Spinnweben übersät vor sich hin. Nur wenn du ihn täglich trainierst und forderst, kann er Höchstleistungen abliefern.
Nutze diese Waffe und analysiere deinen Lieblingsroman. Finde heraus, warum du ihn so sehr magst. Wie hat der Schriftsteller das gemacht? Sei neugierig und hinterfrage alles.
Das gilt auch dann, wenn du einen Film siehst. Lass dich nicht einfach nur berieseln. Widme ihm deine volle Aufmerksamkeit und schreibe danach auf, was dir aufgefallen ist. Das Gute und das Verbesserungswürdige.
Natürlich ist das Arbeit! Aber niemand hat gesagt, dass es leicht ist, Schriftsteller zu sein. Machst du dir diese Arbeit nicht, läufst du weiterhin auf Sparflamme und das schlägt sich in deinen Romanen nieder, kostet dich Leser und damit auch den Platz in der Bestseller-Liste.
Genre
Dieser Punkt entfacht oft Diskussionen.
Genre wird gerne mit Mainstream gleichgesetzt und bekommt dadurch einen negativen Touch.
Ich sage dir, dass das Genre eine der wichtigsten Entscheidungen ist, die du in deiner Karriere als Schriftsteller treffen musst.
Dabei ist es egal, für welches du dich entscheidest. Hauptsache du entscheidest dich!
Und dann liest du Bücher aus deinem Genre, mit deinem analytischen Verstand. Welche Konventionen und obligatorischen Szenen gibt es? Dir dürfte klar sein, dass ein Krimi einen Ermittler, eine Leiche und einen Mörder braucht. Wie sieht es im Liebesroman aus? Fantasy, Action, Jugendbuch, usw.?
Welche Spezialfälle gibt es in den ganzen Sub-Genres? Welche Charaktere müssen auftauchen?
Deine Leser kennen unbewusst all diese Dinge und erwarten sie daher auch in deinem Roman. Fehlt etwas, erzeugt das genau dieses Gefühl. Das kennst du bestimmt selbst, wenn du einen Roman beendet hast und dann denkst: «Hmmm, ich weiß nicht. Irgendetwas hat gefehlt, ich kann aber nicht genau sagen was.»
Ich kann dir mittlerweile genau sagen, was gefehlt hat. Erstens, weil es eine Fähigkeit ist, die ich mir für meinen Job antrainiert habe. Zweitens, weil ich mich kontinuierlich weiterbilde und lese, lese, lese.
Wie lese ich als Schriftsteller?
Zunächst schlage ich dir, vor den Roman zweimal zu lesen. Einmal als Leser, der einfach nur genießt. Dann als Schriftsteller mit deinem analytischen Verstand. Wenn du geübter bist, kannst du direkt in den Analyse-Modus schalten und wirst sogar dabei genießen. 🙂
Dann notierst du dir pro Szene, was geschieht. In einem (!) zusammenfassenden Satz. Diese Fähigkeit zu trainieren ist essenziell, um dein eigenes Exposé zu schreiben oder deinen Roman einem Agenten oder Verlag zu pitchen.
Jetzt hast du eine Art Gliederung des Romans, die du weiter analysieren kannst, indem du dir folgende Fragen stellst:
- Was ist das Thema?
- Was ist der grundlegende Konflikt? Wie wird er aufgebaut, wie spitzt er sich zu und wie wird er aufgelöst?
- Wo nimmt die Geschichte jeweils eine entscheidende Wendung?
- Was ist die Haupthandlung und wieviel Nebenhandlung gibt es? Wie sind sie miteinander verwoben?
- Wie wird Spannung aufgebaut? Wo gibt es versteckte Hinweise? Wie werden Informationen vorenthalten?
- Welche Figuren gibt es? Hauptfiguren und Nebenrollen. Sind alle Figuren wichtig? Warum sind sie wichtig? Welche Motivation haben sie? Haben sie einen gemeinsamen Schmelztiegel, also Gründe, warum sie miteinander agieren müssen? Wie haben sich die Hauptfiguren am Ende des Romans verändert? Haben sie sich überhaupt entwickelt?
- Wie ist die Welt beschrieben? Wird sie erfahrbar oder wird einfach nur der Handlungsort genannt? Bei einer erfundenen Welt: Unterliegt sie einer inneren Logik? Ist sie durchdacht? Welche Bereiche dieser Welt kommen nicht in der Geschichte vor? Warum?
- Wie sind die Sätze aufgebaut? Werden Fachbegriffe verwendet? Sind die Sätze kurz oder lang? Welchen Unterschied macht das jeweils? Wie ist die Erzählperspektive? Wäre eine andere vielleicht besser gewesen? Warum?
Dann nimm dir noch einmal die Szenen vor, die dich beim Lesen besonders beeindruckt haben. Oder solche, die du für verbesserungswürdig hältst.
- Warum beginnt die Szene genau da? Wäre ein anderer Einstieg besser gewesen?
Tipp: Spät rein, früh raus aus einer Szene
- Wie ist das Ende? Hätte man es kürzen oder lieber verlängern sollen?
- Was ist der Konflikt? Wie steigert er sich? Wie löst er sich?
- Was steht auf dem Spiel?
- Was sind die Ziele der Charaktere in der Szene?
- Was ist der Sinn dieser Szene? Werden Figuren charakterisiert, Informationen oder Vorausdeutungen eingebaut?
Mein Fazit
Lesen kostet Zeit. Insbesondere wenn du wie ein Schriftsteller liest.
Aber ich hoffe, ich konnte dir aufzeigen, dass es dich so viel mehr kostet, wenn du dir die Zeit nicht nimmst. Im schlimmsten Fall deine Karriere als Schriftsteller. Ich weiß, das ist hart zu hören und radikal, aber es ist leider nur allzu wahr.
Lesen gehört zur Jobbeschreibung eines Schriftstellers dazu, wie das tägliche Training, das jeder Champion auf sich nimmt, um Großes zu erreichen.
Stagnation ist der Tod der Kreativität.
Ich sage nicht, dass du jede Woche einen 600-Seiten-Schinken lesen musst. Aber ein paar Seiten pro Tag sind immer drin.
Frage dich, ob du wie ein Zombie vor der Glotze hocken oder doch lieber trainieren möchtest, um deinen Bestseller-Roman zu schreiben? Für beides musst du nicht einmal die Couch verlassen …
Schau gerne auch einmal bei meinen Bestseller-Anlaysen vorbei, wenn du möchtest. So eine einfache Analyse reicht für den Anfang schon aus. Wenn du dich sicherer fühlst, kannst du dann immer weiter in die Tiefe gehen.
Welchen Roman hast du zuletzt gelesen? Hast du ihn versucht zu analysieren und zu verstehen, wie er funktioniert? Wenn nicht, wirst du es in Zukunft tun?
Wieviel Zeit nimmst du dir pro Tag/Woche/Monat um zu lesen?
Ich freue mich, wenn du mir einen Kommentar hinterlässt. 🙂 Wenn du Fragen hast oder Hilfe bei deinem Roman benötigst, schreibe mir gerne eine E-Mail: lektorin.anke.mueller@gmail.com
Ich wünsche dir noch einen wundervollen Tag voller großartiger Lesemomente.
Alles Liebe
Anke
Ich habe mich schon ertappt gefühlt… Zu meiner Verteidigung muss ich folgendes sagen: Mein liebstes Genre war lange Zeit das Jugendbuch. Dort wurden immer die gleichen Klischees wieder und wiedergekäut (Protagonistin mag kein Mathe, Verlust der Mutter/des Vaters). Diese Klischees haben mich schließlich so irrsinnig angeödet, dass ich heute kaum noch lese :(.
Wie wäre es denn mit einem Blog-Beitrag oder Video zum Thema „Klischees in Jugendbüchen und wie man sie vermeidet“? Darüber würde ich mich echt freuen 🙂
Liebe Grüße
Liebe Anke,
jetzt musste ich über mich selbst lachen. Ursprünglich wollte ich diesen Beitrag lesen und dann habe ich mich in deiner Beitrags-Schatzkiste verirrt… 🙂 Nein. Nicht verirrt. Vertieft. Genau… vertieft wollte ich schreiben. Ich lese sehr viel. Und schreiben tu‘ ich auch. Häufig Rezensionen. Aber nur für die Bücher, die mir wirklich gut gefallen und aus denen ich viel mitnehme. Inhaltlich und stilistisch. Negativ-Rezensionen schreibe ich nicht. Warum nicht? Meine persönliche Meinung: keiner unserer Autorenkollegen haben es verdient, dass wir ihre Werke zerpflücken. Und so schreibe ich lieber nichts, wenn mich ein Buch nicht berührt. ….
Aber ich verliere mich schon wieder. … Ich verdiene mein Geld über meine psychologische Expertise. Schreiben und Lesen – aus beiden ziehe ich Inspiration für meinen Job. Es gibt also noch eine dritte Dimension.
DANKE für diesen tollen Beitrag.
LG – Die Tanja
Ein toller Artikel!! Ich erwische mich immer wieder dabei, dass ich lieber schreibe anstatt zu lesen. Oft sogar ganz ineffektiv vor dem Fernseher. Das wird sich jetzt ändern. Vielen Dank fürs Wachrütteln 😉
😀 Sehr gerne. 😉
Ich könnt gar nicht aufs Lesen verzichten, auch wenn ich mit meinem Roman beschäftigt bin,les ich viel nebenher.Ich versuche auch mittlerweile jeden Roman zu analysieren, was funktioniert hier gut,oder was hätte ich anders gemacht. Ohne Bücher wäre es für mich eintönig.Mich inspirieren auch einige Romane und Autoren wie sie Spannung aufbauen oder wie sie flüssig und spannend schreiben.
Ein sehr toller Artikel, der wunderbar die Vorteile des Lesens für SchriftstellerInnen aufzeigt. Bei mir zuckt auch immer das Augenlid, wenn AutorInnen sagen, sie lesen nicht. Irgendwie merkwürdig.
Ich lerne gerne dazu, leider fällt mir das analysieren sehr schwer. Ich kann selten benennen, was mir warum gefallen oder nicht gefallen hat. Ich hoffe das wird mit der Zeit besser.
Liebe Grüße
Cathy
Vielen lieben Dank. 🙂 Keine Sorge, das kommt mit der Zeit. Am Anfang fiel es mir auch sehr schwer genau zu benennen, warum mir eine Stelle gefallen oder nicht gefallen hat. Das braucht einfach Übung.